Samstag, der 29. Mai 1999. Ein Tag voller Licht und Sonne. Kurz nach 13.00 Uhr rollen drei PKW-s langsam von Wickersdorf die alte Mühlstraße hinunter. Der Weg bis zum Auebad ist gewohnheitsmäßig miserabel, so daß sich eine zurückhaltende Fahrweise von alleine empfiehlt. Aber wir sind rechtzeitig gestartet, um pünktlich 13.45 Uhr an der Bushaltestelle in Unterweißbach zu sein. Insgesamt sind zehn Personen unterwegs, die, inspiriert vom Heimatverein, heute eine Fahrt mit der berühmten Tschu- Tschu- Bahn machen wollen. So bewegt sich die kleine Karawane in getragenem Tempo das schattige Sorbitztal hinunter. Auf den letzten 2-3 Kilometern säumen die Ufer der Schwarza unseren Weg.
Wir sind in der Tat früh genug aufgebrochen, denn schon kurz vor 13.30 Uhr erreichen wir unser Ziel, den Parkplatz am Ortseingang von Unterweißbach. Von der Tschu- Tschu- Bahn ist weit und breit noch keine Spur. Doch um die Wartezeit zu verkürzen, haben die Unterweißbacher einen prächtigen Springbrunnen auf ihrem Parkplatz errichtet. Dunkle Felsbrocken, die etwa 2,5 m hoch aufgestapelt sind. Aus fünf oder sechs Düsen, die sternförmig angeordnet sind, sprudelt je ein dünner Wasserstrahl auf das Gestein und plätschert über die kantigen Kaskaden hinunter in ein etwa 10 cm tiefes Becken. Das Ganze strahlt in der drückenden Hitze ein wenig Kühle aus und wird so zu einem Ort, an dem man gern verweilt. Für Hilde Rosenbusch ist es dennoch zu warm. Sie läßt sich von ihrer Schwiegertochter einen Schirm holen, um die gleißenden Sonnenstrahlen abzuwehren und sich damit etwas Schatten zu verschaffen.
Uli Knopf nutzt die Zeit, während wir entspannt um den Brunnen herumsitzen, um die Fahrkarten zu lösen. Dieses ist das letzte Jahr, an dem man den Grund des geplanten Lichtestausees mit einem Landfahrzeug befahren kann.
Dieser Tatsache wird Rechnung getragen, indem der Fahrkarte eine Urkunde beigegeben ist, auf der in Gedichtform ausdrücklich auf diesen Umstand hingewiesen wird. Wie wir nun so sitzen und das gemütliche Ambiente genießen, kommt über Kurz oder Lang die vollbesetzte Tschu- Tschu- Bahn von ihrer Tour zurück. Nachdem sie mit einem weiten Bogen auf dem Parkplatz gewendet, und die große Schar der Fahrgäste ihre Plätze verlassen hat, steht sie bereit, uns als neue Passagiere aufzunehmen.
Unsere Reisegruppe hat sich mittlerweile um zwei Personen erhöht, denn als wir schon das freundliche Geplätscher des Springbrunnens genossen, trafen noch Inge und Gerhard Berger in unserer Mitte ein. Allerdings sind wir Wickersdorfer nicht die einzigen, die an der Rundfahrt teilnehmen wollen, sondern von allen Ecken und Enden des Parkplatzes strömen jetzt die Menschen heran, um den Zug zu besteigen. Die Gefahr, daß nicht alle Platz bekommen, besteht jedoch nicht und da es bis zur Abfahrt noch eine reichliche Viertelstunde ist, lassen sich alle Zeit, einen geeigneten Sitzplatz zu suchen. Wer will, holt sich am Kiosk noch etwas zu trinken oder leckt noch ein Eis. Einige ganz Verwegene kaufen sich noch ein Getränk für die Fahrt. Wie gut diese Idee, auf Grund mangelnder Kühlmöglichkeiten im Zug, wirklich ist, wird sich zeigen.
Kurz vor der planmäßigen Abfahrtszeit kommt der Zugführer vom Kassengebäude auf uns zu. Dies nehmen dann auch die Letzten zum Anlaß, ihre Plätze einzunehmen. Damit während der Fahrt niemand hinausfalle, verhängt der Zugführer die Einstiege mit Ketten, während er gleichzeitig die Fahrkarten kontrolliert. Frau Berger hat ihre Billetts peinlicherweise unauffindbar verlegt. Sie durchwühlt suchend Jacken-, Hosen- und Handtaschen; der Erfolg bleibt leider aus. Dank der Bürgschaft von Hella Munzert, unterstützt durch die ganze Reisegruppe, ergeben sich aber keine unliebsamen Konsequenzen – der Mann nimmt den Fakt ohne Kommentar zur Kenntnis, sichtet die Karten der restlichen Fahrgäste und besteigt seinen Führerstand.
Holpernd setzt sich unser Gefährt in Bewegung. Die Federung ist nicht sehr komfortabel, aber für zwei Stunden wird es schon gehen. Aus zwei Lautsprechern, die an der Decke am Wagenende angebracht sind, ertönt jetzt Volksmusik. Da die Lautstärke so eingestellt ist, daß auch bei Verkehrslärm die vorn Sitzenden noch etwas verstehen können, sind die hinten Sitzenden einer recht intensiven Dröhnung ausgesetzt. Doch ungeachtet dessen zuckelt die Bahn vorerst zwischen den Häusern von Unterweißbach entlang. Über die moderne Bordsprechanlage meldet sich der Fahrer, um seine Fahrgäste zu begrüßen. Das hat die angenehme Nebenwirkung, daß für diese Zeit die Musik ein bißchen leiser geregelt wird.
Wir sind noch keine 10 min. unterwegs, als wir schon den ersten Haltepunkt erreicht haben.
Der Chauffeur, der gleichzeitig das Amt des Reiseleiters innehat, lädt uns ein, ihm ins Gebäude der Talsperrenverwaltung zu begleiten. In einem speziellen Raum im Erdgeschoß steht ein etwa 2m mal 5m großes Modell der Landschaft rings um den zukünftigen Stausee. Ganz am Rande findet sich ein roter Fleck, den man bei genauer Analyse des gesamten Umfeldes eindeutig als Wickersdorf erkennen kann. Das Modell stellt das Gelände so dar, wie es mit gefülltem Staubecken erscheinen wird. Anhand von kleinen Lämpchen kann der Verlauf von schon vorhandenen – oder vorgesehenen Leitungen und die Lage von prägnanten Punkten und Orten verdeutlicht werden, die im Gesamtkonzept des Projektes „ Lichtetalsperre “ irgendeine bestimmte Rolle spielen. Von einem Schaltpult aus steuert unser Reiseführer das Blinken und Leuchten, während er mit einfachen Worten versucht, die Bedeutung der einzelnen Anlagenteile zu erklären. Diese Veranstaltung dauert wohl so um die 10 min. und sodann fordert uns der Lokführer auf, wieder in den Zug zurückzukehren.
Die Fahrt in Richtung Leibis wird fortgesetzt. Als die Bahn nach 2 min. am Ortsausgang von Unterweißbach schon wieder anhält, bittet uns der Fahrer über Bordfunk, sitzenzubleiben.
Er muß nur das große eiserne Tor öffnen, das jeglichen unbefugten Verkehr vom Baustellengelände der Staumauer fernhält. Schon wenige Minuten später kriecht der Zug über den Grund des zukünftigen Stausees flußaufwärts. Linkerhand wird das Wasser der Lichte durch einen mächtigen Stollen untertage umgeleitet, um die Baustelle trocken zu halten. Ein paar Meter darüber sieht man den Eingang der Röhre, durch die später das Wasser bis zum Wasserwerk Zeigerheim gelangen soll. Zur Rechten zieht sich die felsige Fläche der Probeschürfung den Hang hinauf, die hier zur Feststellung der Gesteinsbeschaffenheit angelegt wurde. Wenn es soweit ist, wird gleich an dieser Stelle die Staumauer im Untergrund verankert. Dazu müssen dann allerdings noch mal 10 m an beiden Seiten und nach unten aus dem Fels herausgesprengt werden.
Die einstmalige Ortschaft „ Leibis “, jetzt „ Alt-Leibis “ genannt, ist fast völlig vom Erdboden verschwunden. Von den Häusern, die früher links und rechts die Straße säumten, auf der sich unsere Bahn das Tal hinaufbewegt, sind nicht mal mehr die Fundamente zu erkennen. Ihre Bewohner leben jetzt in „ Neu-Leibis “, einem Ort, der nur ein paar km von hier extra für die Umsiedlung erbaut wurde. Doch wie so oft im Leben, bestätigt auch hier die Ausnahme die Regel! Ein einziger hat über die ganze Zeit hier ausgeharrt. Wer weiß, welche Hoffnungen ihm in all den Jahren die Kraft zum Durchhalten gaben, in denen er hier, als lebendes Relikt einer zum sprichwörtlichen Untergang verurteilten Welt, sein Leben in der Einsamkeit fristete? Wer weiß, welche Ängste ihn quälten? Können wir die Frage klären, wer nun wirklich Recht hatte, in dem Streit, den er, von allen verlassen, gegen einen über-mächtigen Gegner ausfechten mußte? Werden wir jemals erfahren, wie notwendig ist eigentlich der Bau des Staudammes tatsächlich für unsere Wasserversorgung? Herr Vogt muß dem Druck der Talsperrenbetreiber weichen! Wir haben heute Gelegenheit, sein Gehöft, das dem Schicksal der anderen Höfe folgen wird, vom Wagen aus zu fotografieren.
Der Zug setzt seine Fahrt fort und zieht am stillgelegten Bauhof der Firma „Hoch und Tiefbau“ vorbei. Sämtliche Straßenbauarbeiten des Talsperrenprojektes wurden von diesem Unternehmen realisiert. Dann mußte es hier das Feld räumen!
Der Weg geht jetzt steil bergan und bringt uns nach ein paar hundert Metern direkt zum „Deesbach- Stau“. Dieser Stausee wird bereits zur Trinkwassergewinnung genutzt. Von seinem Stauvolumen ist er allerdings entscheidend kleiner als der geplante Lichte- Stausee. Der Zug überquert die Mauer, wendet und hält. Wißbe-gierig, wie wir sind, folgen wir der Aufforderung des Zugführers, auszusteigen. Vor versammelter Mannschaft gibt er einige Erklärungen zum besseren Verständnis dieser Stauanlage und zu Sinn und Zweck des ganzen Aufwandes. Daß man dieses Wasser trinken kann, ist, wenn man es aus der Nähe betrachtet, unvorstellbar. Uli Knopf verdient sich durch die Beantwortung einer Quizfrage, die der Lokführer am Rande seiner Ausführungen gestellt hat, eine 0,04 l – Flasche Kümmerling. Im Vorfeld haben wir erfahren, daß der Ursprung dieses in aller Welt bekannten Schnäpschens just in dieser ruhigen und beschaulichen Gegend zu finden ist.
Die sich anschließende Fahrt geht wieder bergab ins Tal, vorbei an Herr’n Vogts Domizil und auf der anderen Seite, an der die Straße von Meura herunterkommt, wieder hinauf. Hier schlängelt sich am Hang, wenige Meter oberhalb des zu erwartenden Wasserspiegels, die neu angelegte Betriebsstraße entlang. Diese Straße wird wohl auch in Zukunft für den öffentlichen Verkehr gesperrt bleiben. Für Wanderer und Radfahrer, sowie für Fahrgäste der Tschu- Tschu- Bahn, bietet sich von hier oben ein grandioser Blick über das außergewöhnlich reizvolle Tal. Die üppige Vegetation, die an den steilen Hängen zu beiden Seiten gedeiht, muß beseitigt werden, bevor das Becken mit Wasser gefüllt werden kann. Ein großer Teil der Flächen war bereits abgeholzt, aber auch an dieser Stelle war die Natur wieder mal schneller als der Mensch.
Auf großen Tafeln, die am Rande einer Aussichtsplattform aufgestellt sind, lassen sich einige Fakten der vollzogenen Umsiedlung in Wort und Bild erkennen. Unser Reiseleiter ergänzt die Angaben durch einige Sätze mit näheren Erklärungen. Ein Schaukasten an der Stelle, wo in nicht allzu ferner Zeit die Staumauer das rechte Ufer erreichen wird, unterrichtet den Betrachter über technische Details des aufwendigen Bauwerkes. Hier halten wir das letzte Mal im Verlauf unserer Rundreise.
Der Weg, den wir jetzt hinunterfahren, ist in der Tat ziemlich steil. Über Bordfunk werden wir aufgefordert, mit den Füßen nachzuhelfen, falls die Bremsen des Zuges dem immensen Gefälle nicht gewachsen sein sollten. Doch wir erreichen die Talsohle, ohne uns die Schuhsohlen aufzureiben. Zum dritten Mal passieren wir das Vogt’sche Anwesen, bevor sich die Bahn ihrem Weg zum Ausgang des Tales zuwen-det. Noch einmal kommen wir an der Probeschürfung im Fels und an den mächtigen Stollen für den Wassertransport vorbei. Das eiserne Tor am Ortseingang von Unter-weißbach versperrt noch einmal unseren Weg. Schließlich, es sind wohl nicht ganz zwei Stunden vergangen, zieht unser Zug wieder seine Schleife auf dem Parkplatz. Mit ein paar freundlichen Worten durch sein Mikrofon verabschiedet sich unser Fahrer.
Was wir gehört und gesehen haben, kann man sicherlich ganz unterschiedlich bewerten!
Dabei steht eins fest: „So, wie wir es gesehen haben, sehen es nicht mehr viele“!
Die Teilnehmer der Exkursion waren:
Hella Munzert, Hilde Rosenbusch, Marianne Bleyer, Inge Berger, Eva Foede, Gerhild Knopf, Marina Bleyer, Johannes Bleyer, Walter Munzert, Gerhard Berger, Dr. Uli Knopf, sowie Berichterstatter Eddy Bleyer